Stresskompetenz und Stressmanagement gehört an jede Schule

„Warum wurde uns DAS nicht in der Schule beigebracht?!“

Das war meine erste Reaktion, als ich anfing, mich mit dem Thema „Stress“ zu beschäftigen. Wieviele der Kenntnisse und Fähigkeiten, die uns früher in der Schule beigebracht wurden, hast Du seither nicht ein einziges Mal gebraucht? Bei mir ist die Liste ziemlich lang. Bei Dir auch?

 

Welche Prioritäten setzen wir im Alltag und welche Ziele haben wir eigentlich?

 

Ich würde uns als Gesellschaft gerne dazu einladen, uns selbst die Frage zu stellen, ob das, was wir den jungen Leuten beibringen, einfach nur das stumpfe Abarbeiten einer vorgegebenen To-Do Liste ist, oder ob wir wirklich davon überzeugt sind, dass dieses Wissen zu einem erfolgreichen Leben und auch zu mehr Lebensqualität beiträgt. Enthält diese Liste notwendige Life Skills? Sicherlich definiert jeder den Begriff “Erfolg” für sich anders. Sich mit der grundlegenden Frage auseinanderzusetzen, bringt dennoch die ein oder andere Erkenntnis. Wenn ich das mit Software vergleiche, sind wir seit etlichen Jahrzehnten mit dem gleichen Betriebssystem unterwegs. Das Schulsystem arbeitet quasi noch mit Windows 98.

 

Das Betriebssystem, das dringend ein Update benötigt – let’s „agile“!

 

Heißt das, dass Windows 98 grundsätzlich schlecht ist und keinen Nutzen hat? Auf keinen Fall! Damals war Windows 98 der letzte Schrei und das absolute Maß der Dinge – zurecht! Microsoft hat aber ziemlich schnell verstanden, dass sie die Software immer wieder auf den Prüfstand stellen müssen, um sicherzustellen, dass diese noch den aktuellen Anforderungen entspricht. Konkret geht es u.a. um Standhaftigkeit gegenüber neuen Viren und anderen Angriffen von außen, neben Anforderungen der einzelnen User. Diese Form der Agilität würde ich mir auch für unser Bildungssystem wünschen. Das Umfeld hat sich die letzten Jahrzehnte massiv verändert, die Welt ist extrem schnelllebig geworden und wir haben es leider verpasst, unser Betriebssystem auf den neuesten Stand zu bringen. Standardantwort: „Das haben wir halt immer so gemacht.“ Aussagen wie diese lösen bei mir massiv Stress aus. Das heißt noch lange nicht, dass es heute auch noch passt! Schüler und Studenten sind heutzutage ganz anderen Belastungen ausgesetzt als noch vor 20, geschweige denn 50 Jahren. Die Welt ist sehr viel schnelllebiger geworden und die Reize, die auf uns Menschen einprasseln, erfordern eine hochentwickelte Stresskompetenz und Resilienz - bei Schülern wie auch bei Lehrpersonal. Die Viren (kein Wortspiel beabsichtigt), denen unser Betriebssystem noch standhält, gibt es teilweise schon gar nicht mehr. Finde den Fehler.

Stress bei Schülern

Laut einer Studie der DAK aus 2017 leiden 43% aller Schüler unter Stress!

 
 

Was glaubst Du, wie sehen die Zahlen heute - nach 2 Jahren Corona - aus?

 

Bei zu viel Stress wird unser “Kampf oder Flucht” - Modus aktiviert und unser präfrontaler Kortex beeinträchtigt: logisches, rationales Denken wird erschwert oder gar unmöglich gemacht. Was gutes Stressmanagement folglich für die Lernfähigkeit der Schüler auf der einen und die Lehrfähigkeit der Lehrer auf der anderen Seite bedeuten kann, bedarf keiner weiteren Erklärung, oder? Neben dem Lehrermangel ist das in meinen Augen mit ein Grund für das - nett formuliert - “ausbaufähige” Abschneiden in den PISA-Studien die letzten Jahre.

 

„Generation Stress“ – fast 2/3 aller jungen Erwachsenen sind häufig erschöpft

Das sind Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage der Schwenninger Krankenkasse und der Stiftung „Die Gesundarbeiter“ aus Jahr 2013! Lasst das mal sacken. Zwei-Tausend-Dreizehn!

1.000 junge Erwachsene im Alter zwischen 18-34 Jahren wurden hierzu befragt. Da gab es noch kein Corona, keinen Lockdown, kein Home Schooling usw. Wenn diese Zahlen nicht schockieren, dann weiß ich auch nicht.

 

Was ist mit Eltern und Lehrern?

Jetzt mögen einige Leute sagen, dass dies Aufgabe des Elternhauses sei. Grundsätzlich teile ich diese Meinung. Wir sollten uns zunächst den Status Quo anschauen: besitzen die Eltern denn selbst genügend Stresskompetenz, um diese entsprechend an ihre Kinder weitergeben zu können? Schaut Euch mal an, welchen Belastungen Eltern die letzten Jahre ausgesetzt waren - und immernoch sind. Meist müssen beide Elternteile arbeiten, damit der Lebensunterhalt gesichert ist. Es gibt heutzutage auch sehr viel mehr Alleinerziehende. Das war früher nicht so! Und dann kam auch noch Home Schooling…. Auch Eltern leiden massiv unter Stress. Die Erwartungshaltung, dass diese sich nun um die Stresskompetenz ihrer Kinder kümmern sollten, ist aktuell leider alles andere als realistisch. Wenn die Eltern wüssten, wie sie das tun könnten, hätten sie es schon längst getan. Meist können Sie sich nicht einmal um die eigene Stresskompetenz kümmern.

Auch bei Lehrern sieht es nicht besser aus. In der Sonderanalyse der DAK „Lehrergesundheit in der Pandemie“ aus 2020 gaben 90% der Lehrkräfte an, dass der Unterricht im Vergleich zum Vorjahr deutlich anstrengender geworden sei. 28% der Lehrkräfte litten unter starker Erschöpfung und zeigten Burnout-Symptome. In Baden-Württemberg arbeiteten im Schuljahr 2021/2022 knapp 56,6 Prozent und somit mehr als die Hälfte der Lehrkräfte an öffentlichen Schulen nicht voll. Für diesen Trend macht die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft u.a. die Arbeitsbedingungen verantwortlich. Das sieht der Lehrerverband VBE ähnlich und fordert für die Lehrer in Baden-Württemberg u.a. eine bessere Gesundheitsvorsorge: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/vbe-beklagt-gestiegene-belastung-100.html

Sämtliche Menschen in diesem System sind massiv belastet - wie auch in anderen Systemen in unserem Land. Wir müssen dringend umdenken und handeln!

 

Ich kann nur beibringen, was ich selbst auch beherrsche. Ich persönlich würde mir auch sehr gerne andere Umstände wünschen, aber die Realität ist leider eine andere. Wenn wir agil und lösungsorientiert denken und handeln wollen, dürfen wir über den Tellerrand hinausschauen und nach anderen Lösungsmöglichkeiten suchen. Statt „fail fast“ leben wir „fail long & hard and keep doing the same sh** over and over again, hoping for different results.“ Ich habe den Eindruck, wir denken oft nur von der Wand bis zur Tapete. Wir reagieren nur noch und agieren zu wenig. Unser starres System verhindert das. Wir brauchen ANDERE und NEUE Lösungsmöglichkeiten, denn die „alten“ passen offensichtlich nicht mehr zu den aktuellen Anforderungen und in das heutige Umfeld.

Dazu ist es notwendig, den Status Quo erst einmal anzunehmen. Ihn „annehmen“ heißt aber nicht, dass wir ihn toll finden – das hat damit überhaupt nichts zu tun. Aus dem Widerstand herauszugehen ermöglicht meinem Gehirn erst, tatsächlich auch in Lösungen zu denken. Es bringt auch absolut gar nichts, die Schuld von A nach B zu schieben. Die von uns ach so geliebte Suche nach einem Schuldigen: sie lenkt unseren Fokus auf die Vergangenheit und bringt uns in eine Opferrolle. Hilft uns das? Ich denke nicht. Wir brauchen sämtliche Hirnkompetenzen im Hier und Jetzt, um eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Wir brauchen Leute, die Verantwortung übernehmen und ins Handeln kommen!

 

Was macht mir Hoffnung?

Viele Schulen, Hochschulen und Universitäten haben bereits ganz tolle Angebote für ihre Pädagogen, Schüler, Dozenten und Studenten zusammengestellt und das meist in Eigenregie. Wir brauchen sehr viel mehr davon! Programme wie „Klasse 2000“ sind ganz tolle erste Schritte. Daniel Duddek von „Stark auch ohne Muckis“ hat sich der Mobbingprävention verschrieben – auch hier wird schon ganz viel bewegt. Ich würde mir wünschen, dass da auch mehr von „oben“ kommt. Gelder bereitzustellen ist toll und notwendig, absolut. Das möchte ich hier auch gar nicht kritisieren oder in Frage stellen. Die Strukturen und das System stehen uns leider noch zu oft im Weg. Wollen wir denn dauerhaft und immer wieder nur Geld auf Probleme werfen oder wollen wir auch mal dafür sorgen, dass diese vielleicht gar nicht erst entstehen? Diese Frage darf erlaubt sein. Die Tatsache, dass immer mehr Lehrer und Erzieher ihren Job aufgeben oder in Teilzeit gehen, kommt auch nicht von ungefähr.

Wie es auch gehen kann, zeigt das Beispiel eines Schullleiters aus Berlin: https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/gezittert-wie-ein-anfaenger.
Sein Fazit lautet: „Heute aber sind Veränderungsfähigkeit und viel Selbstreflexion gefragt, um eine Schule wie ein Schnellboot flink und flexibel durch die sich rasant wandelnden Zeitläufe manövrieren zu können.” Genau das ist agiles Denken!

Wie Du mit Deinem vorhandenen Stress umgehst, ist ein wichtiger Bestandteil Deiner Stresskompetenz. Dazu gehören u.a. Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR), Meditation, Yoga und Entspannung. Sehr viel nachhaltiger wird es jedoch, wenn Du auch weißt, woher Dein Stress eigentlich kommt und einige der Ursachen von vornherein eliminierst. Das führt zu weniger Stress, mit dem Du am Ende umgehen musst. Diese Art der Stresskompetenz sollte fester Teil des Lehrplans werden! „Soft skills“ statt „harte Schule“ - das ist auch mein Slogan für die Arbeit mit den jüngeren Generationen, Lehrkräften, Erziehern und Eltern – egal, ob im Stressmanagement oder in der Mobbingprävention.

 

Der beste Zeitpunkt ist jetzt!

Was für Eltern gilt, gilt natürlich auch für die Einrichtungen selbst: „Wenn sie wüssten wie, hätten sie es schon längst getan.“ Ich kann mir vorstellen, dass sich viele Einrichtungen Angebote zur gesunden Stressbewältigung wünschen würden, aber vielleicht noch keinen passenden Anbieter gefunden haben. Vielleicht wissen sie auch noch gar nicht, nach was genau sie suchen sollen. Das ist mit ein Grund, warum ich das hier schreibe. Ich möchte Bewusstsein schaffen, zum Nachdenken anregen und Angebote transparent machen. Jacob Drachenberg z.B. setzt sich dafür ein, dass es mehr gut ausgebildete Stress Coaches gibt und das Thema an Fahrt gewinnt. Da hat er schon unheimlich viel bewegt! Es gibt ein ganzes Netzwerk an hervorragend ausgebildeten Stress Coaches, überall im Land verteilt. Wir müssen sie nur nutzen!

Zurück
Zurück

Warum unsere guten Vorsätze meist zum Scheitern verurteilt sind

Weiter
Weiter

Stress Coaching: die große Unbekannte